Digitaler Zwilling des Verkehrs: So kommt die Vogelperspektive ins Auto

Verantwortlicher Redakteur:in: Rainer Trummer 4 min Lesedauer

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Im Rahmen eines Forschungsprojekts lässt sich die Fahrzeugperspektive im Auto durch eine Sicht aus der Vogelperspektive zu ergänzen. Das verspricht mehr Sicherheit im Verkehr -- gerade im Hinblick auf das autonome Fahren.

(Quelle: Stefan Woidig / TUM)
  • Im Forschungsprojekt Providentia++ haben Forschende der Technischen Universität München (TUM) zusammen mit Industriepartnern eine neuartige Technologie entwickelt.

  • Somit lässt sich die Fahrzeugperspektive auf Basis von Bordsensoren durch eine Sicht aus der Vogelperspektive zu ergänzen.

  • Das erhöht die Sicherheit im Verkehr – auch für das autonome Fahren.

Die Erwartungshaltung an das autonome Fahren ist klar: „Ein Fahrzeug muss nicht nur bei geringem Tempo sicher fahren, sondern auch bei hoher Geschwindigkeit“, sagt Jörg Schrepfer. Liegt etwa verloren gegangene Ladung auf der Autobahn, reicht die „Ego“-Perspektive des Autos oft nicht aus, um sie frühzeitig zu sehen. „Ein sanftes Manöver wird in diesem Fall schwer“, meint der Head of Driving Advanced Research Germany bei Valeo. Deshalb haben die Forschenden im Projekt Providentia++, das das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) im Rahmen einer Förderung für automatisiertes und vernetztes Fahren über fünfeinhalb Jahre unterstützt hat, ein System entwickelt, mit dem die Verkehrssituation aus der Vogelperspektive in Fahrzeuge übermittelt werden kann.

„Mithilfe von Sensoren an Schilderbrücken und Sensormasten haben wir auf unserer Teststrecke einen zuverlässigen Echtzeitzwilling des Verkehrs geschaffen, der rund um die Uhr im Einsatz ist“, erläutert Prof. Alois Knoll vom Konsortialführer TUM: „Damit haben wir die Voraussetzung dafür geschaffen, die Sicht des Fahrzeugs durch eine externe Sicht – nämlich aus der Vogelperspektive – zu ergänzen und zudem das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer in Entscheidungen einzubeziehen.“

Vogelperspektive ins Auto übertragen: So lassen sich Verzögerungen geringhalten

Das ist nicht trivial. Denn ein digitaler Zwilling muss wissen, wo genau sich das Fahrzeug befindet, in das die Informationen der Sensorstationen per Funk gelangen sollen. Damit das gelingt, setzt Projektpartner Valeo auf ein so genanntes IMU-GNSS-System (kurz für: Inertial Measurement Unit - Global Navigation Satellite System). Es besteht aus einer Messeinheit und einem Satellitennavigationssystem sowie ein Realtime-Kinematik-Kit. „So schaffen wir ein Koordinatensystem in Echtzeit, das zentimetergenau ist“, erläutert Valeo-Experte Schrepfer. Damit sich die Informationen aus den Fahrzeugen und den Messstationen des digitalen Zwillings synchronisieren lassen, nutzen die Forschenden den UTC-Standard. Dieser liefert eine einheitliche Zeitbasis. Idealerweise würde sich das digitale Abbild wie eine zweite Schicht über die Perspektive des Autos legen. Allerdings lassen sich Verzögerungen (Latenzen) im Gesamtsystem nicht ganz vermeiden. Von der physikalischen Aufnahme der Sensoren über die Weiterverarbeitung der Daten und Übertragung ins Fahrzeug vergeht Zeit. Daten lassen sich verpacken, codieren, versenden und im Auto wieder decodieren.

Hinzu kommen Randbedingungen, zum Beispiel, wie weit das Fahrzeug vom Sendemast auf der Teststrecke entfernt und wie belegt das Übertragungsnetz ist. In einer Demonstrationsfahrt arbeitete Valeo kürzlich mit LTE (4G)-Funkgeschwindigkeit, was eine Verzögerung von 100 bis 400 Millisekunden verursachte. „Ganz vermeiden lassen werden sich diese Latenzen nie, allerdings hilft uns hier eine intelligente Algorithmik“, erläutert Schrepfer: „Noch besser wird es das Ergebnis sein, wenn künftig die Funktechnologien 5G oder 6G flächendeckend im Einsatz sind.“

Prototyp von digitalem Echtzeitzwilling verfügbar

Die Voraussetzung dafür, dass sich diese Daten nun im Fahrzeug nutzen lassen, hat das Forschungsprojekt Providentia++ bereitgestellt. Ziel war es, einen digitalen Zwilling des Verkehrs zu erzeugen, der echtzeitfähig, skalierbar und hochverfügbar ist. Dafür baute das Forscherteam eine 3,5 Kilometer lange Teststrecke in Garching bei München, bestehend aus sieben Sensorstationen. Den Prototyp hat man so entwickelt, dass er künftig bei Bedarf in Serie einsetzbar ist:

  • Die Forschenden arbeiten mit dezentralen digitalen Zwillingen, wodurch sich eine Teststrecke beliebig verlängern bzw. skalieren lässt.

  • Um Datenmengen von mehreren Gigabyte pro Sekunde bewältigen zu können, entstand ein Datenverarbeitungskonzept. Es teilt die Leistungen der Rechenkerne (CPUs) und Grafikkarten (GPUs) optimal untereinander auf.

  • Als besondere softwaretechnische Herausforderungen stellten sich die Sensorkalibrierung und die Entwicklung der Tracking-Algorithmen heraus. Eine entsprechende Software gab es noch nicht. „Wir haben nun ein automatisches Kalibrierungsverfahren anhand einer hochauflösenden Straßenkarte (HD-Karte) im Einsatz, das es noch nicht gab und von uns entwickelt wurde“, erläutert der technische Projektleiter Venkatnarayanan Lakshminarashiman aus dem Lehrstuhl für Robotik, künstliche Intelligenz und Echtzeitsysteme der TUM.

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Der Leiter des Konsortiums Prof. Alois Knoll von der TUM zieht ein ausgesprochen positives Resümee: „Der digitale Zwilling ist reif für die sich anschließende konkrete Produktentwicklung, läuft zuverlässig im 24/7-Betrieb und steht nicht nur auf der Autobahn, sondern auch für Landstraßen und im Kreuzungsbereich zur Verfügung.“

Bild oben: Das Providentia++-Team auf einer Schilderbrücke. Im Bild (v.l nach r.): Andreas Schmitz, Walter Zimmer, Leah Strand, Venkatnarayanan Lakshminarashiman, Christian Creß. Foto: Stefan Woidig / TUM 

Live-Bilder von der Teststrecke des Forschungsprojektes Providentia++ und Hintergrundinformationen zum Projekt: https://innovation-mobility.com/projekt-providentia/

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