Kommerzielle Raumfahrt: Digitalisierung als Schlüssel zum Erfolg?

Verantwortlicher Redakteur:in: Rainer Trummer 6 min Lesedauer

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Immer mehr privatwirtschaftliche Unternehmen drängen in die Raumfahrt. Das lässt marktorientierte Prioritäten wie Zeit und Kosten in den Vordergrund rücken, denn künftig bestimmt der Endpreis das Geschäft. Der Einsatz digitaler Lösungen soll helfen, die wachsende Komplexität von Prozessen und Produkten zu beherrschen und alle Beteiligten zu integrieren.

(Quelle: Dima Zel/shutterstock)

Kommerzielle Raumfahrt: Aufgrund der rasanten Privatisierung in den letzten 20 Jahren ist die Raumfahrtindustrie in eine neue Ära eingetreten. Die Startpreise für Raketen sind gesunken und die Raumfahrt entwickelt sich zu einer kapitalgestützten Wirtschaft. Gleichzeitig haben die Investitionen der Regierungen zugenommen. Der Wunsch nach bemannter Raumfahrt ist nach wie vor groß. Diese Entwicklungen haben die Raumfahrttechnik zu einem geschäftsorientierten Bereich gemacht, in dem Komplexität, Zeit und Kosten an erster Stelle stehen.

Nährboden für neue Anwendungen

Die Privatisierung hat die gesamte Raumfahrtindustrie dramatisch verändert und den Nährboden für neue Anwendungen geschaffen. Das Geschäft boomt. Experten erwarten ein weiteres enormes Wachstum in diesem Jahrzehnt. Wie wirkt sich dieser Wandel auf die Prioritäten in der Produktentwicklung aus? Wie bleiben traditionelle öffentliche Einrichtungen relevant und wo liegen die Chancen für kommerzielle Newcomer?

Kommerzielle Raumfahrt: Zeit und Kosten im Vordergrund

Jahrzehntelang konzentrierten sich die Agenturen darauf, im Rahmen bestimmter Budgets Spitzenleistungen zu erbringen. Ihre Hauptkunden waren öffentliche Einrichtungen wie Verteidigungsministerien, meteorologische Institute oder große öffentliche Dienstleister. Nachgelagerte Dienste und Anwendungen kamen als Nebengeschäft hinzu.

Der Aspekt mit dem öffentliche Einrichtungen künftig am meisten zu kämpfen haben werden, ist die neue Betonung typischer marktorientierter Prioritäten wie Zeit und Kosten im Verhältnis zum Risiko. Das Risiko ist eine natürliche Priorität für die Raumfahrttechnik, aber mit dem Ziel, Astronauten zum Mond und zum Mars zu schicken, ergeben sich neue Herausforderungen.

Neue Chance für Newcomer

In dieser neuen Ära der Raumfahrt bestimmt der Endpreis das Geschäft. Um in einem kommerziellen Kontext erfolgreich zu sein, sind niedrige Kosten, ein anderer Umgang mit Risiken und flexible, kundenorientierte Geschäftsmodelle gefragt. Dies ist der Punkt, an dem traditionellen Akteure in Schwierigkeiten geraten werden und an dem die Newcomer ihre Chancen wittern.

Eine umfassende Digitalisierung während der Entwicklung und der Herstellung wird entscheidend sein, um auf Produkt- und Prozessebene Zeit und Geld zu sparen. Durch den Einsatz eines digitalen Zwillings können Unternehmen die Zeitspanne bis zur Markteinführung verkürzen.

Prozesse integrieren in kommerzielle Raumfahrt

Mit digitaler Modellierung und Prüfung lassen sich Produkte effizienter konzipieren, herstellen und nutzen. Digitale Technologien lassen sich nutzen, um Prozesse zu integrieren, die Automatisierung, Massenfertigung von Komponenten, systemorientierte Ansätze, Wiederverwendbarkeit, vorausschauende Wartung, Rückkopplungsschleifen, additive Fertigung und Zusammenarbeit zwischen Maschinenbau und Elektrotechnik fördern. All diese Fähigkeiten werden für Unternehmen und Agenturen eine entscheidende Rolle spielen, um im neuen Raumfahrtzeitalter wettbewerbsfähig zu bleiben.

(Simulation und Test sind ein wesentlicher Bestandteil der Siemens Digital Thread Technologien und Teil des Xcelerator Lösungsportfolios. Bild: Siemens)

Viel „was“ und „warum“, aber wenig „wie“

Angetrieben durch einen kommerziellen Kontext bringen Newcomer oft Ideen ein, die etablierte Vorgehensweisen in Frage stellen, beispielsweise wiederverwendbare Startsysteme oder große Konstellationen von Kleinsatelliten. Die Umsetzung solcher Ideen in die physische Welt erfordert einen engen Zeit- und Kostenrahmen und ist mit viel technischer Arbeit verbunden. Dazu gehört das Festlegen von Anforderungen, das Untersuchen von Konzepten, das Erforschen von Architekturen, das Verfeinern von Entwürfen, die Realisierung von Produkten und das Verfolgen ihrer Entwicklung bis zum Ende ihrer Lebensdauer. Ein Großteil dieser Arbeit kann virtuell auf der Grundlage großer Datenmengen durchgeführt werden. Dieser Ansatz erfordert leistungsfähige Explorationswerkzeuge und skalierbare Simulationsmethoden sowie eine digitale Plattform, die alle Lebenszykluskomponenten miteinander verbindet.

Allerdings sind diese digitalen Technologien heikel, wenn es um die Entwicklung von Ausrüstung im Rahmen von großen Weltraumforschungsprogrammen geht. Diese Programme beginnen in der Regel mit der Festlegung von Zielen und nicht mit der Festlegung von Vorgaben. Wenn man sich ansieht, was bis zum Jahr 2030 geplant ist, gibt es eine Menge „Was“ und „Warum“. Aber das „Wie“ ist oft noch nicht bekannt. Die Raumfahrtbehörden spekulieren sogar über zu erwartende Entwicklungen in verschiedenen Technologiebereichen, wenn sie Pläne machen und Fristen setzen. Das macht die Sache für Ingenieure interessant. Daher ist die Branche immer an der Spitze der Innovation und trägt zur reinen Forschung bei. Dieses Entwicklungsniveau erfordert jedoch eine starke digitale Plattform, um alle Ideen innerhalb des Zeit- und Kostenrahmens zu erfassen, zu sammeln, zu simulieren und zu entwickeln und dabei auf dem richtigen Weg zu bleiben.

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Von Natur aus komplex

Die meisten Raumfahrtsysteme sind von Natur aus komplex. Als Beispiel lassen sich moderne Antriebssysteme oder Robotersysteme mit eingebauter künstlicher Intelligenz nennen. Bei ihrer Entwicklung spielen so viele Parameter eine Rolle, dass die Ingenieure einen digitalen Zwilling benötigen, um auch nur annähernd erfolgreich zu sein. Das Herzstück dieses digitalen Zwillings sind realistische, vorhersagefähige Simulationsmodelle, mit denen alle Systemaspekte von Beginn des Entwicklungszyklus an gleichzeitig optimiert werden können. Einige dieser Systeme entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Sie verfügen über Sensoren, die eine weitere Leistungsoptimierung ermöglichen, wenn sie in Betrieb sind. Diese Systeme kommunizieren untereinander und mit ihrer Umgebung und geben Informationen an die Entwicklungsteams zurück, um zukünftige Verbesserungen und eine vorausschauende Wartung zu ermöglichen. Dieses Systemverhalten erfordert die Verwaltung großer Datenmengen und die Nutzung von Analysetools in einer digitalen Lösung, die den gesamten Produktlebenszyklus umfasst.

(Engineering 2017 versus Engineering 2020 mit dem digitalen Zwilling. Bild: European Space Agency)

Darüber hinaus sind Raumfahrtsysteme für den Betrieb in der rauen Umgebung des Weltraums vorgesehen. Geräte, die die geschützte Erdatmosphäre verlassen, sind anderen Schwerkraftbedingungen, extremen Temperaturschwankungen und kosmischer Strahlung ausgesetzt. Jede technische Arbeit an weltraumgebundenen Systemen muss diesen Bedingungen Rechnung tragen. Anwendungen oder Materialien, die in anderen Branchen als fortschrittlich oder exotisch eingestuft würden, sind in der Weltraumentwicklung Standard. Der Einsatz eines digitalen Zwillings bei der Produktentwicklung erfordert daher eine leistungsfähige Simulationssoftware, die speziell auf die typischen Anforderungen der Technik für die kommerzielle Raumfahrt zugeschnitten ist. Es gibt nur eine Handvoll solcher Lösungen auf dem Markt. Aus diesem Grund wird kommerziell verfügbare Software oft mit firmeneigenen Tools kombiniert, was die Komplexität der Tool-Integration weiter erhöht. Hinzu kommt, dass in großen Raumfahrtprogrammen viele Unternehmen zusammenarbeiten müssen. Jedes hat seine eigenen Daten, Prozesse, Methoden und Tools. Ohne angemessene Integration ist die Zusammenarbeit fehleranfällig.

Kommerzielle Raumfahrt: Datenmenge überfordert viele Akteure

Datenmanagement und -integration sind für viele Unternehmen eine Herausforderung. So führte Accenture eine Umfrage unter Führungskräften der Luft- und Raumfahrt- sowie der Verteidigungsindustrie durch und kam zu dem Ergebnis, dass sich 74 Prozent von ihnen angesichts der Menge an verfügbaren Daten aus Produkten und Dienstleistungen überfordert fühlen. Das Beratungsunternehmen folgert, dass Digitalisierungstechnologien Unternehmen dabei helfen können, Daten zu nutzen, um wertvollere Erkenntnisse zu gewinnen, die Entscheidungsfindung zu verbessern und die Herstellungskosten zu senken.

Digitaler Informationsfaden von Anfang bis Ende

Eine übergreifende digitale Infrastruktur, in der alle Daten für die verschiedenen Phasen des Produktlebenszyklus gesammelt, verwaltet und auf dem neuesten Stand gehalten werden sowie für die relevanten Programmbeteiligten zugänglich sind, ist für die Prioritäten der Raumfahrtsystementwicklung von großem Nutzen. Diese Art von Plattform webt einen digitalen Informationsfaden von der Anforderungsdefinition bis zur Zertifizierung und darüber hinaus. Ein digitaler Zwilling ermöglicht es, ein Produkt mit seinen ursprünglichen Anforderungen in Verbindung zu bringen und die Auswirkungen aller Entscheidungen und Maßnahmen während des gesamten Programms zu verfolgen.

Das Xcelerator-Portfolio von Siemens, bestehend aus Software, Services und Anwendungsentwicklungsplattform eignet sich für jedes Raumfahrtprogramm, auch die kommerzielle Raumfahrt, und ist darauf ausgelegt, die digitale Transformation zu beschleunigen. Die einheitliche Plattform verwaltet alle Daten und Benutzerrechte. Lösungen lassen sich in einen digitalen Zwilling integrieren.

Der Autor Thierry Olbrechts ist Director of Siemens Simcenter Aerospace Industry Solutions.

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